Dreißig Auflagen "Dick und Dalli": Über die Sehnsucht nach Island und Immenhof 14. Oktober 2011 von Christina Hucklenbroich
Eiskalt muss es in Hamburg gewesen sein am 15. Januar 1958. Darauf deutet jedenfalls das verschwommene Agenturbild hin, das damals im "Westfälischen...
Eiskalt muss es in Hamburg gewesen sein am 15. Januar 1958. Darauf deutet jedenfalls das verschwommene Agenturbild hin, das damals im „Westfälischen Anzeiger“, der „Siegener Zeitung“ und vielen anderen Lokalzeitungen erschien. Es zeigt eine Familie aus Hamburg-Blankenese, die Kinder in dicken Winterjacken mit fellgesäumten Kapuzen, am Hafen, wo man ein struppiges Ponyfohlen in Empfang nimmt, das soeben mit dem Frachter „Vormann Raß“ aus Reykjavik eingetroffen ist. 98 weitere Fohlen waren an Bord, bestellt von deutschen Tierschützern, Familien mit pferdenärrischen Kindern und unverbesserlichen Romantikern. Der Text zum Bild lautet: „Die vierjährige Isabel Alsen aus Hamburg-Blankenese hat zu ihrem heutigen Geburtstag von den Eltern ein Pony geschenkt bekommen. Hier begrüßt sie mit ihrem Bruder Stephan das erste Mal den neuen Hausgefährten.“
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Ob aus dem Fohlen, dem Bild nach zu urteilen wird es wohl nur ein halbes Jahr alt sein, tatsächlich ein „Hausgefährte“ wurde, ist ungewiss. Die Familie Alsen nahm ebenso wie viele tausend andere Deutsche Ende der fünfziger Jahre an einer Rettungsaktion für isländische Fohlen teil, die vor dem Schlachter gerettet werden sollten. Der Frachter „Vormann Raß“ brachte im Januar schon den zweiten Transport nach Hamburg.
Hintergrund war eine bundesweit verbreitete Pressemeldung aus dem Herbst 1957, in der zu dieser Rettungskampagne aufgerufen worden war. Etwa 300 bis 400 Mark sollte ein solches Fohlen kosten, hieß es darin, in Island drohe ihm der Schlachthof, weil die karge Insel nicht alle Fohlen ernähren könne, die jährlich auf die Welt kamen. Die Rettungsaktion fand ein überwältigendes Echo in der Bevölkerung. In die Welt gesetzt worden war die Meldung von Gunnar Bjarnason, dem isländischen Staatskonsulenten für Pferdezucht, und einer Gruppe von Deutschen um die Kinderbuchautorin Ursula Bruns. Die Meldung war ein Vorstoß, mehr Öffentlichkeit zu erzeugen, nachdem man schon zuvor jahrelang vergeblich versucht hatte, Islandpferde in Deutschland zu etablieren.

Gunnar Bjarnason hatte seine Pferde sogar schon in mehreren europäischen Ländern vorgestellt, doch immer ohne Erfolg. In Deutschland war das Interesse ganz langsam gewachsen, nachdem 1955 die Verfilmung von Ursula Bruns‘ Kinderbuch „Dick und Dalli und die Ponys“ unter dem Titel „Die Mädels vom Immenhof“ in die Kinos gekommen war. Doch der Import kam nicht richtig in Schwung. Als die Rettungskampagne begann, gab es wohl nicht mehr als zweihundert Besitzer von Islandpferden in Deutschland.Ursula Bruns‘ Roman „Dick und Dalli und die Ponys“ war 1952 erschienen. Im Herder-Verlag erreichte das Buch dreißig Auflagen, als Taschenbuch bei dtv noch einmal elf. 1955 wurde die Geschichte über zwei Schwestern, die auf dem Islandpferdegestüt ihrer Großmutter in Norddeutschland aufwachsen, mit Heidi Brühl, Margarete Haagen, Paul Klinger und anderen Stars der Fünfziger verfilmt. „Ein bezauberndes Farbgemälde“, urteilte die „Fränkische Tagespost“ damals:

 

 

„Ein “Schmunzelstück von Jugendträumen, Alterssehnsüchten, von Liebe und ein bischen Lebensernst im richtigen Ton.Für den Film konnte Bjarnason die ersten fünf isländischen Wallache nach Deutschland verkaufen: Sóti, Blesi, Gráni, Jarpur und Blakkur. Nach dem Ende der Dreharbeiten waren nur sehr schwer Abnehmer zu finden. Für die Fortsetzung, „Hochzeit auf Immenhof“, kaufte die Filmgesellschaft dann noch einmal 25 isländische Pferde.
Die wenigen privaten Käufer organisierten den Import über die Prokuristin einer Hamburger Firma, Ursula Schaumburg, die privat mehrfach in Island Urlaub gemacht und dort Ritte unternommen hatte. Zurück in Deutschland, sah sie sich aus Interesse an der Islandpferdehaltung auf dem Kontinent den „Heidhof“ bei Hannover an, das älteste Islandpferdegestüt in Deutschland. Seit 1904 züchtete man die Rasse dort. Schaumburg erhielt bei dieser Gelegenheit den Auftrag, bei ihrem nächsten Besuch auf Island einige Zuchtpferde für den „Heidhof“ zu erwerben. So kam sie zu ihrer Tätigkeit als Pferde-Importeurin.
Sie suchte die angeforderten Pferde in Island aus und schickte sie nach Hamburg, wo sie im November 1955 ankamen. Die „Bild“-Zeitung war zur Stelle und veröffentlichte am 13. November 1955 ein Foto von Schaumburgs kleiner Tochter Dagmar mit den gerade eingetroffenen Pferden, die als „Blutauffrischung für die seit 1905 im Gestüt Heidhof der Wahrendorffschen Fortsverwaltung (…) bei Hannover betriebene Zucht der Islandponies“ bezeichnet wurde. „Bild“ behauptete: „Um Kometa (eins der Pferde) sind viele Tränen vergossen worden. Der kleine neunjährige Gunnar, der Sohn des isländischen Züchters, wollte Kometa nicht hergeben, es war ein Lieblingspferd. Erst als er davon hörte, daß Kometa im Film ‚Die Mädchen vom Immenhof‘ eine Hauptrolle haben sollte, gab er es frei.“Ursula Schaumburg besorgte tatsächlich auch Pferde für die Immenhof-Filme, kam darüber in Kontakt mit Ursula Bruns und Gunnar Bjarnason. Die drei wurden zu Ansprechpartnern im Zuge der Rettungskampagne, die 1957 ihren Lauf nahm.
Achttausend Bestellungen erreichten Schaumburg in den Monaten, nachdem man die Pressemeldung über das Fohlenschlachten lanciert hatte. Ursula Bruns warb in ausführlichen Reportagen gemeinsam mit Felix von Eckardt, dem Pressechef der Bundesregierung, für die Rettungsaktion. Mit einer besonderen Notlage auf Island konnten die Initiatoren ihr Projekt allerdings nicht begründen – noch heute schlachten die Isländer jährlich etwa 5000 Pferde. 1957 wurde schlicht an die Tierliebe der Deutschen appelliert. Die reagierten prompt, schickten Briefe und Telegramme, darunter auch folgendes: „Erbitte Islandpony, beige mit braunen Streifen, zur Probe per Nachnahme.“ Im November 1957 kamen 25, im Januar 1958 noch einmal hundert Ponys im Hamburger Hafen an, weitere Transporte folgten. Bis Mitte der sechziger Jahre holte die Importfirma insgesamt mehr als dreitausend Pferde aus Island.Heute gibt es 65.000 Islandpferde in Deutschland, nirgendwo sonst außerhalb Islands lebt eine Population dieser Größe. Die konventionelle Reiterwelt begegnete dem Phänomen anfangs mit Ablehnung. Die deutschen Pferdezüchter fühlten sich bedroht. „Ein deutscher Mann von Ehre“, hieß es, setze sich nicht auf ein kleines, zottiges Pony. Die traditionsreiche Pferdezeitschrift St. Georg schrieb, die Islandpferde seien für die reiterliche Ausbildung von Kindern „völlig ungeeignet“.
Doch der wachsende Kreis um Ursula Bruns konterte mit dem Argument, den Pferdebesitz für alle Bevölkerungsschichten öffnen zu wollen. „Reiten war bis zum Ende des Krieges etwas Elitäres, nur für reiche Leute, die einen Reitknecht hatten“, sagte Bruns vor einigen Jahren in einem Interview mit der F.A.S. Als Gegenentwurf beschworen schon die ersten Islandpferdehalter immer wieder das Bild von der „Sekretärin“, die nun neben dem „Fabrikanten“ auf dem eigenen Islandpferd ausreiten konnte. In Wirklichkeit waren unter den ersten 800 Mitgliedern des von Bruns gegründeten „Deutschen Pony-Klubs“ nur drei Sekretärinnen. Die häufigsten Berufe waren Kaufmann, Arzt oder Zahnarzt, Handwerksmeister, Fabrikant und Ingenieur; daneben gab es viele Architekten, Rechtsanwälte und Künstler.
Diese ersten Käufer kümmerten sich kaum um die Kritik aus etablierten Reiterkreisen. Sie fühlten sich als Pioniere und zogen sogar aufs Land, um ihre Pferde am Haus halten zu können. Die Tiere von der Vulkaninsel sprachen mit ihrem wildromantischen Äußeren die Ästhetik derer an, die Pferde nur aus Erzählungen kannten. Ihre fremde Gangart, der „Tölt“, schockierte die deutschen Warmblutzüchter, aber die Freizeitreiter lernten ihn bald schätzen, denn der Viertakt ohne Schwebephase schonte den Reiterrücken. Ursula Bruns schrieb Reportagebücher über die Familien, die mit ihren Pferden in enger Verbundenheit lebten, am Stadtrand, den Stall nur ein paar Schritte von der Haustür entfernt.